// semier insayif //
über zeugungen
Gedichte
Verlag Berger 2017
(wann)
von je her
falle ich
mir zu
geflogen
wie ein vogel
breite ich
die arme aus
und warte
Gedichte
Verlag Berger 2017
(wann)
von je her
falle ich
mir zu
geflogen
wie ein vogel
breite ich
die arme aus
und warte
In vier unterschiedlich umfangreiche Kapitel gegliedert, stellt sich dieser Band auf den ersten Blick in einer aufbäumenden Widerständigkeit dar, gleichzeitig präsentiert er eine vorgebliche Lässigkeit, wenn er gleich zu Beginn lapidar behauptet „über zeug“ nachzudenken.
Das Zeug nennt sich auch Leben – und genau danach werden Fragen gestellt, Behauptungen zu solchen umgeschrieben. Der Autor legt den Versuch einer Standortbestimmung vor, ohne Arabesken, aber mit einem radikalen poetischen Ansatz, der in dieser taumelnden Welt den lyrischen Duktus gegen den Strick bürstet – was zum ganz genauen Hinschauen, Hinlesen zwingt und einen erstaunlichen Spagat zuwege bringt: eine stille, weil ohne Plakatfarben entworfene und doch klare, kompromißlose Auseinandersetzung mit dem Eigenen im Schlagschatten einer teilweise sehr beunruhigenden Gegenwart.
Der Lyriker, der sich mit seinen Mitteln abarbeitet, setzt sich aus, um dieser Welt (auch) schreibend beizukommen – wozu auch die in Klammern gesetzten Titel der Gedichte beitragen: eingeklammert, fragend, zweifelnd, zurückhaltend – und sofort wieder konterkariert, weil es ja weitergehen muß, auch oder gerade weil es so schmerzhaft sein kann, daß nur noch der Verlust benannt wird (ohne, Seite 16) – bis schließlich eine Titel-Klammer konsequent leer bleibt – welches Wort wäre es, das die Bodenlosigkeit des Entgrenzt-Seins umfassend, ausreichend, gültig benennen könnte?
Ein Aufgeben kommt nicht in Frage, da richtet der Lyriker eben zwischendurch – im wörtlich zu nehmenden Sinn – Zeichen an die Welt: Schrägstrich – oder bedient sich als musikaffiner Autor aus der Nomenklatur dieses Genres, läßt tönen – und: „liegst immer quer zum ton“.
Offene Wunden fließen ein in diese ganz und gar unlarmoyante, schonungslose Bestandsaufnahme, die sich dann als (so ist) darstellt.
In Teil zwei wird die Geometrie des Himmels als „unerhört“ decouvriert – und diese Vokabel ist nicht nur in der Bedeutungsimplikation des landläufigen „empörend“ zu nehmen – es bedeutet (auch): das Unerlöste, nicht-Gehörte.
Natur, Himmel, Sterne, eine spezielle Himmelsmechanik – und darunter der Versuch, mit einem Du in Dialog zu treten „bis die herzhirnkammern sich öffnen“.
Im Teil echos resonanzen rekurriert der Lyriker auf bedeutende KollegInnenschaft, errichtet aus deren Be-Arbeitungen, aus Bild/Klang/Verwundung/Auferstehung aus dem Nichts einen neuen, individuellen Rahmen, an dem sich ranken darf, was immer wieder gefragt werden muß. Und es zeigt sich deutlich, daß Suche und Sucht nicht zufällig onomatopoetisch zusammengehören: die Suche/Sucht nach diesem einen Wort (das im übrigen auch in der christlichen Liturgie eine zentrale Rolle spielt) – nach diesem Schlüssel für die Welt, der in dem einen liegt (vielleicht), der im Unendlichen liegt (vielleicht), der für den Dichter dort liegen kann, wo er, um es mit Bachmann zu formulieren, „seine äußerste Farbe“ erreicht: kopf herz hand und stift.
Teil vier ist Epilog und Statement.
Sylvia Treudl
Er ist ein Fragender – wer vor einigen Jahren öfter in der Alten Schmiede in Wien war, weiß das. Wer den Sohn einer österreichischen Mutter und eines irakischen Vaters jemals gesehen bzw. gehört, wird ihn kaum vergessen. Semier Insayif ist nicht nur eine imposante Erscheinung, sondern hat auch eine äußerst angenehme Stimme und eine Intonation, von der sich manch ein Autor oder eine Autorin eine Scheibe abschneiden könnte. Ein Erlebnis, von ihm Gedichte vorgelesen zu bekommen. Da merkt man noch, wie eng Musik und Literatur beieinander liegen. So auch bei seinem neuesten Lyrikband in der Edition „Neue Lyrik aus Österreich“. Hier bemerkt man wieder den fragenden Menschen (ein rest nacht, S.35) und v.a. den homo ludens. Insayif liebt es, mit Worten zu spielen. Diesmal stehen meist die Präfixe im Mittelpunkt, die er spielerisch absetzt, die Vollverben oder Nomen getrennt, manchmal sogar in die nächste Zeile versetzt. So auch bei „Titel gebenden“ Gedicht „über zeugungen“ – entweder man liest in der Kleinschreibung und erlebt somit die Geburt von Gedichten mit oder man bezieht es auf ein Werk des deutschen Lyrikers Friedrich Hölderlin „Überzeugung“, das Insayif dezidiert in dem Gedicht „ über zeugung„ variiert. Ein Gedicht davor listet er jene deutschen, österreichischen, toten oder lebenden Dichterinnen und Dichter, die für ihn wahrscheinlich Leitbild, Vorbild etc. sind. Formal mit Aufgesang, drei Hauptteilen und Abgesang erinnert der Band an die Zeit, wo noch die Form eines Gedichtes wichtig war. Aber auch in vielen der Gedichte von Semier Insayif kann man die alten Formen und Rhythmen erkennen bzw. spüren.
Mag. Christian Grill
über zeugungen
Diese elementaren Wörter Zeugnis, Zeuge oder Zeugung sind immer ganz nah dran an der Erschaffung der Lebewesen und ihrer Wahrheiten. Der spontane Eindruck von „über zeugungen“ deutet auf jemanden hin, der sich bei der Zeugung übernommen hat, und das macht natürlich neugierig auf die Gedichte.
Semir Insayif hat seine gut sechzig Gedichte auf drei Bottiche aufgeteilt: über zeug und gänge (7) / die geometrie des himmels ist unerhört (27) / echos resonanzen 43).
Die Gedichte der ersten Abteilung sind jeweils mit in Klammern gesetzten Grundbestimmungen überschrieben, etwa wann, wie, ohne. Von diesen Haltegriffen aus ist jeweils eine Skizze des lyrischen Ichs nach unten gelassen wie eine Strickleiter.
„(wann) // von je her / falle ich / mir zu / geflogen / wie ein vogel / breite ich / die arme aus /
und warte“ (8) In diesen Gedichten wird oft eine Grundstimmung reduziert auf einen Ton, Ort oder eine Lage, die Sinnesorgane werden neu kalibriert und es entsteht so etwas wie ein fixierter Augenblick auf einem unruhigen Display.
In der Sektion von der Geometrie des Himmels hängen die Gedichte meist ohne Titel wie reife Zapfen nach unten, „geschwätzig hängen sie / geschwärzt / in allen winden“ (30) Die Himmelsbewohner Sterne, Wolken oder Vögel sind in eine poetische Konstellation gedrängt, denn selbst am weiten Firmament gibt es so etwas wie eine Ordnung des Sehens und Gesehen-Werdens.
Die Echos und Resonanzen beginnen schließlich mit einer Hommage an wichtige poetische Stationen, das können die Fadensonnen von Celan sein oder aber auch nur ein einzelnes Blatt von Hermann Lenz. Alle diese subtilen Meister der stillen Poesie bleiben bescheiden zu Versen aufgefädelt, während sie ihr Echo verströmen.
In Gedichten von der Fernschreibung, der Geschichtsschreibung oder vom Lippenbogen wird sogar die Schrift gewechselt, Zeichen aus anderen Schriftkulturen unterstützen die geäußerte Meinung oder lösen sie auf, vielleicht in ihr Gegenteil.
Das Titelgebende Gedicht „über zeugung“ bricht schließlich den Erwartungsbogen auf, der sich zwischen Zeugung und seinem Überbau aufgetan hat.
„über zeugung // was über fällt sich / je am tag als zeugung / seiner selbst um nachtet / dunkel so was hell erscheint / im innern ungeachtet / außen fern bei nahe beugung / unter stellt das dämmern strich / um strich dem geist ein leuchten / und vereint“ (45)
Auf einer x-ten Metaebene lässt sich dieses Gedicht auch als Abrechnung mit der aktuellen Rechtschreibung lesen, wo die über Jahrzehnte zusammengewachsenen Wortteile systematisch gesprengt werden. Freilich, in den Löchern der alten Schreibvorstellung bildet sich plötzlich aktueller Sinn.
Helmut Schönauer
07/03/17
Jubiläumsblog. Ein Vierteljahrhundert DAS GEDICHT
Folge 27: Semier Insayif – Der Mensch hinter dem Dichter
Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.
Semier Insayif, geboren 1965, lebt in Wien als Dichter und Schriftsteller. Lesungen und Sprechperformances im In- und Ausland, zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Kunstkatalogen, Anthologien und im Rundfunk. Konzeption und Moderation von literarischen Veranstaltungen, kunstübergreifende Projekte mit MusikerInnen, bildenden KünstlerInnen, TänzerInnen.
Insayif veröffentlichte bislang sieben Einzelbände, zuletzt »über zeugungen. Gedichte« (Verlag Berger, 2017). Er erhielt diverse Preise und Stipendien, u. a. das Staatsstipendium für Literatur des österreichischen Bundesministeriums für Bildung 2009/10, das Literaturaufenthaltsstipendium »Casa Litterarum« 2012 sowie das Projektstipendium für Literatur des Bundesministerium für Kunst und Kultur 2014/15.
Wer im Oktober 2012 das 20-jährige Jubiläum von DAS GEDICHT miterlebt hat, dem geht es womöglich ähnlich wie mir: Die Ganzkörperperformance »Wortgeburt«, die Semier Insayif zu Beginn des Abends aufführte, hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Da der Schriftsteller und Performer – Sohn einer österreichischen Mutter und eines irakischen Vaters – als Kunst- und Kulturmanager, Fitnessberater, Kommunikations- und Verhaltenstrainer, Schreibwerkstattleiter und Veranstaltungsorganisator mehr als beschäftigt ist, haben wir uns mit seinem neuesten Buch beschäftigt. Michel Ackermann, Klavierpädagoge, Pianist, Autor und Familientherapeut i.A. und Autor dieses Gastbeitrages, hat sich intensiv mit dem Band auseinandergesetzt.
Sprache als sechstes Sinnesorgan
Wen oder was erzeugt Sprache? Sprache erzeugt Wirklichkeit. Doch zunächst nur die Wirklichkeit der Sprache, denn, um es mit den Worten von Gertrude Stein auszudrücken: »Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose«. Und sie hat damit wohl auch sagen wollen, dass die wirkliche Wirklichkeit nicht die der Sprache ist. Bei Semier Insayif erklingen hintergründige Botschaften auf ganz andere Weise und doch ähnlich:
»durch dein letztes / wort gerutscht / stoß ich mich / an dir oder an mir / erwache in einem / fremden traum«
Die Wirklichkeit der Welt ist auch ihm eine andere. Eine andere als die der Sprache, die ihre eigene Wirklichkeit im Denken über die Welt beschreibt. Unser Denken über die Welt. Im Interview mit Franziska Röchter auf DAS GEDICHT blog (Gipfelruf Folge 4) sagt Insayif hierzu:
»[Der Leser soll das Denken] nicht ausschalten, aber ich halte leidenschaftliche plädoyers fürs ›nichtverstehen‹ oder besser gesagt fürs ›nicht zu voreilige verstehen‹ oder anders gesagt fürs ›mehrsinnige verstehen‹. der sinn ist nicht die letzte schicht eines textes. nicht immer sinnzentriert hören, sondern auch sinnenzentriert.«
Und: »die poetische präzision ist aus meiner sicht eine öffnende, weniger eine schließende. jedes wort, jeder laut, jeder vers … öffnet mehrere fenster zu einer welt, die dadurch in vielerlei perspektiven unterschiedlichst wahrnehmbar wird.«
Wir können vermuten: Sprache erzeugt eine ›mehrsinnige‹ Identität, indem sie uns hilft, uns selbst in unserer (denkenden) Bewegung zu bestimmen. Auch ist sie in dieser Bewegung ein Werkzeug der Verbindung, zwischen Menschen und anderen Wesen der Natur und ihren Elementen:
»striche deiner kehle / fliegen auf / und schrieben sich / (gegen jeden plan) / als vogelschwarm / mit tintenfedern / in ein abgrundtiefes blau / geschwätzig hängen sie geschwärzt / in allen winden.«
Wörter bezeichnen die Dinge, aber nur ein bisschen. Vielmehr bringen sie diese um uns herum zum Erklingen. Durch ihre Verbindungen im Wortklang entsteht dabei eine neue, gleichsam verdoppelte Wirklichkeit: Die Wirklichkeit der Dinge, nachdem Sprache sie an ihre Wörter gebunden hat. Das ist die Wirklichkeit der Natur der Dinge, wie wir sie sehen, in Sprache und ihren unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten:
»aus klang ein licht durchs / zwischen dunkel riechts und duftet sich / aufs blatt und ab gegriffen pflückt was / sät die saat so hoch geschleudert taumelt«
Wir lesen, hören und fühlen es: Insayif geht es um die sinnlich erfahrbare Welt, die hinter den Wörtern in uns wirkt. Die Wörter sollen uns helfen, Klang, Geschmack, Geruch und das in sich verschlungene Bildermeer der Erfahrung besser in uns zu verankern. Das Erleben wird hierfür in Worten verstärkt: Wir können unsere Sinnesorgane über eine erdichtete Sprache verstärken. Sprache wird in Insayifs Gedichten zum Sinnesverstärker in Worten, die sich dem zu voreilig eindeutigen Sinn entziehen. Und auch entziehen wollen.
Denn Worte werden in der Lyrik nicht um ihrer Eindeutigkeit willen verwendet, sondern um ihre Vieldeutigkeit im Kontext zu feiern. Der immer ein besonderer ist. Hier ist er lose, ein Zusammenhang, der in Worten verschüttet, verschenkt wird. Es glitzert, rauscht und tönt, als gelte es, nicht Sinn herzustellen, sondern einen solchen endgültig der Sinneswelt zu unterstellen. Die Sinne siegen gegen den Sinn, zumindest in einer Lyrik wie dieser, die die Kraft zweier Herkunftswelten in sich vereint.
Semier Insayif ist zweisprachig aufgewachsen, sein Vater stammt aus dem Irak. Hier und da werden in die Verse auch arabische Schriftzeichen eingefügt, die der arabischunkundige Leser weder lesen noch in sich hören kann. Was dem Charme der unerwarteten Verweise keinen Abbruch tut, zumal der Ansatz der Gegenüberstellung zweier fremder Sprachkulturen in früheren Arbeiten bereits von Insayif konsequent verfolgt wurde. Hörbar ist einem Leser, der schon ein wenig in arabische Poesie eintauchen konnte, der arabisch-poetische Hintergrund in Insayifs Versen allemal: In seiner sinn- und sinnesbezogenen Musikalität liegt in meinen Ohren das kleine Wunder dieses Lyrikbandes.
Michael Ackermann